The Gray Man ist das bis dahin wohl ambitionierteste Projekt von Netflix. Im Vorfeld hat man vielfach gehört, dass der Film mit mehr als 200 Millionen US-Dollar die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten ist. Der Streaming-Gigant möchte mit The Gray Man in Zukunft ein ganzes Universum à la James Bond aufbauen. Da passt es, dass die Russo-Brüder Anthony und Joe Regie führen – sie haben mit Avengers: Infinity War und Avengers: Endgame in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass sie erfolgreich Universen inszenieren können. Auch die Besetzung von The Gray Man ist beeindruckend: Ryan Gosling, Chris Evans, Ana de Armas und Billy Bob Thornton sind nur einige, die an dem Film mitwirken.
Viel Geld, große Namen und ein neues Universum – klingt ganz so, als würde es bei Netflix richtig gut laufen. Eine Meldung, die da so gar nicht reinpasst, kam am vergangenen Dienstag: Dort verkündigte die Firma, im zweiten Quartal des Jahres 970.000 Abonnentinnen und Abonnenten verloren zu haben. Bereits im ersten Quartal hatte Netflix 200.000 Zahlende verloren. Die Antwort darauf, warum Netflix so viele Zuschauerinnen und Zuschauer verliert, findet sich auch in The Gray Man – ein Film, der ein Sinnbild für all das ist, was bei Netflix momentan falsch läuft.
Der Plot
Der Film handelt von Court Gentry oder auch Sierra Six (Ryan Gosling), der aus dem Gefängnis heraus rekrutiert und zum Profikiller der CIA ausgebildet wird. Er ist der Beste in seinem Job und erwischt seine Zielperson immer. Als er bei einem Job an sensible Informationen gelangt, die seine Vorgesetzten belasten, wird Sierra Six plötzlich selbst gejagt. Die Fahndung leitet der skrupellose und brutale Privatagent Lloyd Hansen (Chris Evans). Es beginnt eine Hetzjagd um die ganze Welt, bei der Sierra Six sich gegen Profikiller wehren muss, eine Verschwörung aufdecken soll und vor allem die Menschen retten will, die ihm wichtig sind.
Kritik
Charaktere wie Schablonen
Von Anfang an ist The Gray Man vor allem eins: Langweilig. Eine aufgeblasene, oberflächliche 0815-Nummer. Das liegt zuallererst an den wahnsinnig schwachen Charakteren. Vor allem der Protagonist der Geschichte, Gentry, bleibt den ganzen Film über blass. Es wird nie richtig klar, was ihn eigentlich antreibt, was er will, wer er ist. Es wird versucht, eine Vater-Sohn-Sohn-Geschichte zu etablieren, die klar machen soll, warum Gentry so ist, wie er ist. Funktionieren tut sie nicht, denn die Szenen tauchen nur in kleinen Rückblendenschnipseln auf, denen dann auch nur wenige Sekunden Zeit eingeräumt werden. Eine weiteres Beispiel für die verkorkste Charakterschreibung ist die angeblich ganz tiefe Bindung zwischen Gentry und der kleinen Claire Fitzroy, gespielt von Julia Butters, die als keckes Mädchen aus Once Upon a Time in Hollywood bekannt ist. Die Bindung der Beiden soll in einer Rückblende deutlich werden – diese ist aber so schwach inszeniert und so unglaubwürdig, das keine Emotionen aufkommen wollen. Sowieso wollen nie Emotionen aufkommen – bei keinem einzelnen Charakter. Denn nicht nur Gentry ist nichtssagend, sondern auch jede andere Figur im Film. Egal ob Lloyd Hansen als Gegenspieler, Dani Miranda (Ana de Armas) und Donald Fitzroy (Billy Bob Thornton) als Gentrys Verbündete oder andere Nebencharaktere: Sie alle sind leere, austauschbare Hüllen. Ein Großteil von ihnen könnte ersatzlos gestrichen werden und merken würde es niemand. Der Film nimmt sich nie die Zeit dafür, seinen Charakteren Leben einzuhauchen und sie vernünftig einzuführen. Wenn sie doch mal so etwas wie Tiefe und Emotionalität zeigen, wird das sofort im Keim erstickt – meistens durch eine der zahlreichen, teilweise unerträglichen und völlig deplatzierten „coolen“ und „lustigen“ Sprüche: Kein Mensch redet so wie die Figuren in The Gray Man. All das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass hier ein Universum entstehen soll, bei dem einige der Charaktere sicherlich noch einmal auftauchen werden. Vor allem aber ist es ärgerlich. Denn jeder im Cast hat in vergangenen Filmen bewiesen, was er oder sie kann – und niemand bekommt in The Gray Man die Möglichkeit, das zu zeigen. Das schauspielerische Potenzial wird so komplett verschenkt.
In 3 Tagen um die Welt
Die austauschbaren Figuren werden dann im Laufe des Films in kürzester Zeit um die halbe Welt gejagt – ja, wirklich um die halbe Welt: Wir sind in Aserbaidschan, Kroatien, London, Berlin, Wien, Prag, Hongkong, Bangkok; hier wird Neuseeland gesagt, da sehen wir das Sydney Opera House im Hintergrund – gefühlt gibt es keinen Ort auf der Welt, der nicht erwähnt wird oder an dem nicht gedreht worden ist. Dabei wird man das Gefühl nicht los, dass Netflix wirklich jedes Publikum auf der Welt ansprechen möchte – egal ob in Nordamerika, Lateinamerika, Asien, Afrika oder Ozeanien: für jede Zuschauerin und jeden Zuschauer soll hier was dabei sein. Das wäre ja nicht schlimm, wenn es denn funktionieren würde; immerhin haben Filmreihen wie Bourne oder James Bond gezeigt, wie es gehen kann. In The Gray Man aber funktioniert das nicht. Die Geschichte fühlt sich wahnsinnig unnatürlich und konstruiert an. Sie wirkt wie am Reißbrett entworfen und als hätte man auf Krampf versucht, möglichst viele Orte zu zeigen, möglichst viele Namen zu droppen und möglichst viel Action zu liefern, um wirklich jedes Publikum auf der Welt in einfachster Weise zu befriedigen. Genau wie die Charaktere bekommt so auch die Geschichte nie die Zeit, sich zu entfalten – und nach spätestens einer Stunde haben wir sowieso vergessen, was hier eigentlich passieren soll. Dadurch kratzt auch die Geschichte bis zum Ende nur an der Oberfläche. Sie gewinnt niemals an Tiefe. Alles Ernsthafte wird sofort zunichte gemacht und es wird wieder in die nächsten Actionszene reingesprungen – und von denen gibt es genug.
Action zwischen Schnittgewitter und Effekthascherei
Was wir also statt Charakter-Exposition und einer spannenden Geschichte bekommen, ist Action – The Gray Man ist ja schließlich auch ein Actionfilm. Ist die denn wenigstens gut? Nein. Meistens ist sie richtig schlecht. Oft scheitert sie an viel zu schnellen und teilweise willkürlichen Schnitten: Ryan Gosling, der eine beeindruckende Physis hat, schlägt mit einem kräftigen Schlag zu und – Schnitt. Wir sehen nicht, wie der Schlag trifft – die Wucht verpufft. Von solchen Szenen gibt es zahlreiche; dazu kommt eine verwirrende Kamera, bei der wir teilweise orientierungslos in der Action umhereiern. Gemixt ist das Ganze mit billigen Choreografien und vor allem mit Figuren, bei denen man sich die ganze Zeit fragt: Warum machen sie das und wieso können sie das? Ana de Armas schießt zum Beispiel mit Granatwerfern, Scharfschützengewehren und Betäubungspfeilen – einfach so. Sie arbeitet bei der CIA und kann das halt. Der Film versucht, die schwache und unglaubwürdige Action mit pompösen Effekten zu kaschieren, aber funktionieren tut das nicht, denn auch die Effekte sind eher mau. Zwar knallen einige Schusswechsel rein – letztendlich aber wirkt die Action wie Effekthascherei. Und auch hier stellt sich die Frage: Warum? Allen Schauspielerinnen und Schauspielern ist es zuzutrauen, saubere Action zu choreografieren und in einigen Ansätzen erkennt man das auch, nur wirklich tun lässt man sie es nicht. Stattdessen schneidet man weg oder poliert das Ganze mit Effekten und viel „Boom Boom“. Dazu kommen weitere Probleme, wie die klassische Plot-Armor (eine Granatenexplosion aus einem Meter Entfernung überlebt man hier locker), völlig hanebüchene Zufälle („Oh, eine geheime Falltür, die aus der Wohnung herausführt“) und Logiklöcher, über die man einfach nicht hinwegsehen kann (eine Straßenbahn, die trotz Explosionen, Schusswechsel und Beschuss fährt und fährt und fährt).
Wie geht es weiter bei Netflix?
Am Ende bleibt vor allem eines: Enttäuschung. Wieder einmal zeigt eine Netflix-Produktion, dass es nicht ausreicht, irgendwo Geld reinzuschmeißen und zu hoffen, dass es gut wird. Es braucht eben mehr als Kohle, Stars und eine Reise um die Welt, um einen guten Film zu machen. The Gray Man ist nicht der erste Film dieser Art von Netflix. Es verwundert also auch nicht, dass so viele Zuschauerinnen und Zuschauer sich das nicht mehr antun wollen. Laut Netflix möchte man die Filmstrategie in Zukunft verändern: Man möchte sich auf weniger, aber bessere Projekte konzentrieren. Es bleibt zu hoffen, dass The Gray Man ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit ist und Netflix endlich das macht, wofür viele Menschen monatlich ihr Geld zahlen: Gute Filme.
Fazit
The Gray Man ist viel heiße Luft, ein austauschbarer und generischer Film, ohne jegliche Tiefe, mit blassen Charakteren, einer konstruierten Geschichte und schlechter Action. In ganz seltenen Momenten macht der Film Spaß.
Bewertung
Genre: Action | FSK: 16 | Laufzeit: 129 Minuten | auf Netflix